In einem kürzlich ergangenen Urteil hat das Bundesgericht einen Leistungsvertrag geprüft, bei dem es um die Übertragung der Führung von Sekundarklassen an eine private Institution im Kanton St. Gallen ging. Interessant ist dabei zweierlei:
1) Welche gesetzliche Grundlage braucht der strittige Leistungsvertrag?
2) Kann der Leistungsvertrag allenfalls selbst eine gesetzliche Grundlage darstellen?
Der Kontext
Obwohl öffentlich-rechtliche Verträge (oder verwaltungsrechtliche Verträge, die beiden Begriffe werden in der Schweiz meist synonym verwendet) zum juristischen Alltag gehören, ist oftmals nicht klar, wie eingehend solche Verträge gesetzlich abgestützt sein müssen. Das Legalitätsprinzip verlangt, dass jedes staatliche Handeln auf einer gesetzlichen Grundlage fusst (Art. 5 BV); gleichzeitig kommt dem Vertrag als Handlungsform im öffentlichen Recht aber nur dann ein eigener Platz zu, wenn die Parteien damit auch Inhalte vereinbaren können, die sich nicht in einer wortwörtlichen Niederschrift von Gesetzesbestimmungen erschöpfen. Dieses Spannungsfeld kann im Einzelfall beträchtliche Rechtsunsicherheit mit sich bringen.
Im Urteil vom 5. November 2021 (Verfahren 2C_136/2020 und 2C_137/2020) hat das Bundesgericht zu dieser Thematik zwei interessante Bausteine geliefert. Es ging konkret um die politische Gemeinde Wil (die “Stadt”), die ursprünglich mit dem Kloster St. Katharina (das “Kloster”), einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, einen Vertrag über die Führung einer Mädchensekundarschule geschlossen hatte. Dieser Vertrag wurde nach einigen Jahren angepasst, was Anlass zum hier besprochenen Verfahren gab. Einerseits übernahm im Zuge dieser Anpassung die vom Kloster gegründete privatrechtliche Stiftung St. Katharina (die “Stiftung”) die Führung der Schule, andererseits wollte nun die Stadt mitbestimmen, welche Schülerinnen aus der Gemeinde an der Privatschule die Sekundarstufe besuchen durften.
Gegen den Beschluss des Stadtparlaments Wil, der den abgeänderten Vertrag guthiess, wurde Abstimmungsbeschwerde geführt. Mit Beschwerden in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wird u.a. geltend gemacht, dass der Vertrag über keine genügende gesetzliche Grundlage verfüge.
Erkenntnis 1:
Übertragung des Schulbetriebs = Übertragung einer staatlichen Aufgabe
Einen eleganten Ausweg aus der Frage nach der gesetzlichen Grundlage lieferte die Rechtsnatur und Tragweite des Vertrags, die das Bundesgericht zuerst analysiert (Erwägung 4.1): Beim Vertrag über die Übertragung der Führung von Mädchensekundarklassen an die Stiftung handle es sich um einen öffentlich-rechtlichen Leistungsvertrag. Damit werde inhaltlich eine staatliche Aufgabe, nämlich die “Beschulung” von Jugendlichen an der Sekundarstufe, an eine private Leistungserbringerin übertragen. Sowohl aufgrund der Kantonsverfassung des Kantons St. Gallen als auch der Rechtsprechung des Bundesgerichts bedarf eine solche Übertragung einer gesetzlichen Grundlage. Handelt es sich um eine wichtige Regelung, muss diese auf der Normstufe des Gesetzes festgehalten werden.
Zum Einwand, es handle sich bei der vorliegenden Übertragung nicht um eine wichtige Regelung, fand das Bundesgericht klare Worte (E. 4.3.1):
“Das Argument überzeugt nicht. Der Entscheid einer Gemeinde, einer privaten Institution die Führung von Sekundarschulklassen anzuvertrauen, hat weitreichende Folgen, sowohl für die betroffenen Schülerinnen und Schüler als auch für den Schulbetrieb der öffentlichen Schule. Wenn auch durch die öffentliche Aufsicht über die Privatschulen grundsätzlich gewährleistet wird, dass die vom Kathi beschulten Schülerinnen einen der öffentlichen Schule gleichwertigen Unterricht erhalten, so tangiert die Vereinbarung wesentliche Grundrechtspositionen der Wiler Schüler und Schülerinnen. Wenn auch keine Verpflichtung seitens der Wiler Schülerinnen besteht, das Kathi zu besuchen, so wirken sich dessen Zugangsbedingungen diskriminierend auf die Schülerinnen und Schüler aus Wil aus, da nur eine beschränkte Anzahl Mädchen und keine Buben Zugang zum Kathi erhalten. Des Weiteren wirft die religiös geprägte Ausrichtung des Kathi die Frage auf, ob der Anspruch der Wiler Schülerinnen auf einen konfessionell neutral geführten Unterricht (Art. 15 Abs. 3 BV) gewährleistet ist. Schliesslich gilt es zu berücksichtigen, dass die staatliche Finanzierung einer Privatschule zur Folge hat, dass der öffentlichen Schule Finanzmittel entzogen werden, was sich negativ auf die Qualität des Leistungsangebots der öffentlichen Schule auswirken kann.”
Erkenntnis 1: Mit der Feststellung, es handle sich um die eigentliche Übertragung einer staatlichen Aufgabe, werden die Anforderungen an die gesetzliche Verankerung des Leistungsvertrags angehoben. Vorliegend bedarf es also eines Gesetzes, und die Analyse der gerichtlichen Instanzen führte zum Schluss, dass weder das Volksschulgesetz noch die Gemeindeordnung der Stadt Wil die nötige(n) Bestimmung(en) enthielten.
Im Übrigen: Was noch zu einer staatlichen Aufgabe gehört und was nicht, ist ebenfalls oftmals unklar. Insbesondere stellt sich beim Beizug privater Leistungserbringer jeweils die Frage, ob die eigentliche staatliche Aufgabe ausgelagert werde, oder nur eine Tätigkeit, die mittelbar zur Erfüllung staatlicher Aufgaben beiträgt [1]. Vorliegend fällt die Antwort jedoch klar aus: Ja, der Betrieb einer Sekundarschule ist als Erfüllung einer staatlichen Aufgabe zu verstehen.
Erkenntnis 2:
Der Vertrag kann u.U. selbst die gesetzliche Grundlage bieten
Die Stiftung brachte gegen die obenerwähnte Erkenntnis das Argument vor, es handle sich beim Vertrag selbst um eine gesetzliche Grundlage; dies deswegen, weil er dem fakultativen Referendum unterstanden hätte und somit die politischen Rechte, die zur Schaffung eines Gesetzes dazugehören, geltend gemacht werden konnten.
Dieser Ansatz ist deswegen spannend, weil mit der Erkenntnis, der Vertrag selbst stelle eine genügende gesetzliche Grundlage dar, die oben gefundene Lücke (Erkenntnis 1) sogleich wieder gefüllt werden könnte.
Das Bundesgericht meinte dazu, was ein formelles Gesetz sei und ein solches ausmache, ergebe sich aus dem kantonalen Recht. Diesbezüglich könne auch ein Vertrag in Frage kommen (E. 5.2):
“Je nachdem vermag auch ein Vertrag, der dem fakultativen Referendum unterlag, selber als gesetzliche Grundlage zu dienen […]. Dasselbe gilt für Konkordate […]. “
Vorliegend war es dem Bundesgericht aus prozessualen Gründen nicht möglich, selbst zu prüfen, ob das massgebliche Gemeindegesetz des Kantons St. Gallen es erlaube, den Vertrag selbst als gesetzliche Grundlage anzunehmen. Es hat das Urteil der Vorinstanz aufgehoben und die Sache zur Prüfung dieser noch offenen Frage zurückgewiesen.
Erkenntnis 2: Wenn die nötige materielle gesetzliche Abstützung eines öffentlich-rechtlichen Vertrags unklar verbleibt, kann je nach Situation der Vertrag selbst in einem Verfahren verabschiedet werden, die ihm die Gesetzeseigenschaft zukommen lässt.
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[1] Vgl. dazu etwa Bernhard Rütsche, Was sind öffentliche Aufgaben?, in: recht 2013, S. 153-162; weitere Referenzen dazu: Esther Zysset, Nachträgliche staatliche Einwirkung auf den verwaltungsrechtlichen Vertrag mit Privaten, Basel 2020, S. 89-91.