In der polarisierten Politwelt steigen die Risiken für die Unabhängigkeit der Judikative. Sind Gerichtsurteile über Verwaltungsakte nicht auf der Regierungslinie, werden sie als ideologisch gebrandmarkt. Nach einigen mitteleuropäischen Staaten dürfte nun auch Washington die Gewaltentrennung schwächen. Wie sicher sind die Verwaltungsgerichte in der Schweiz?
von Philipp do Canto
Seit die neue US-Administration das Zepter bzw. die modische Kettensäge schwingt, wächst das Interesse an Verfassungsfragen. Selbst der Talkmaster Jon Steward greift in seiner Show das Prinzip der Gewaltenteilung auf, wenn auch auf komische Art. Anlass bildet die eher humorlose Behauptung des US-Vizepräsidenten, wonach es Gerichten nicht gestattet sein soll, die rechtmässige Machtausübung der Exekutive zu überprüfen: «Judges aren’t allowed to control the executive’s legitimate power».
Gerichte als Bollwerk der Betroffenen
Der Angriff auf die Verwaltungsgerichte überrascht nicht. Bereits vor der US-Amtsübernahme stand fest, dass sich Betroffene mittels Beschwerden gegen Anordnungen Washingtons zur Wehr setzen werden. In einigen Fällen wurde die Administration denn auch bereits von Richterinnen und Richtern zurückgepfiffen. Was liegt dann für eine Regierung näher, als der Judikative das Recht auf Verwaltungskontrolle abzusprechen?
Vielleicht trifft das Votum in gewissen Belangen sogar zu. Der Verfasser ist mit US-Recht zu wenig vertraut, um das zu vertiefen. Wer hier mitliest und Kenntnisse im amerikanischen Constitutional law aufweist, möge sich gern melden, es winkt eine Einladung auf einen Caffè americano und Brownies.
Wenden wir uns also der Schweiz zu.
In der Eigenossenschaft braucht es keine grosse Rückblende, um auf einen massiven Angriff gegen die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu stossen. Als die Klimaseniorinnen im April 2024 in Strassburg durchdrangen und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte EGMR die Schweizer Umweltmassnahmen als mangelhaft qualifizierte, wurde das Urteil vom Ständerat als «gerichtlicher Aktivismus» abgetan. Das offizielle Statement der Rechtskommission gehörte zu den anständigen Vorwürfen.
Verwaltungsgerichte in der Schweiz
In der Schweiz wird die richterliche Kontrolle behördlicher Akte durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit ausgeübt. Auf Bundesebene übernimmt seit 2007 das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen diese Funktion. Bis zur Justizreform wurde die Aufsicht durch die departementalen Rekurskommissionen gewährleistet (REKO). Auf Kantonsebene existieren entweder Verwaltungsgerichte oder spezialisierte Abteilungen der Ober- oder Kantonsgerichte. Diesen obliegt je nach Kognition die volle oder eingeschränkte Überprüfung von Verwaltungsakten. Die Prozesse richten sich nach besonderen Verwaltungsverfahrensgesetzen, also nicht nach der Schweizerischen ZPO. Als letzte Instanz fungieren die öffentlich-rechtlichen Abteilungen des Bundesgerichts, soweit nicht Sondernormen den Weg nach Lausanne oder Luzern versperren. Zuallerletzt prüft der EGMR eine Verletzung von Menschenrechten.
Für die Staatsrechtlerin ist es kalter Kaffee, aber ein Detail ist hier zu ergänzen: Unsere Bundesverfassung verbietet die Beschwerdeführung gegen Akte des Bundesrats und der Bundesversammlung. Hätte die US-Administration in der Schweiz also freies Spiel? Hier beginnen die Spitzfindigkeiten. Denn es ist zunächst zu klären, was überhaupt mit „Akten“ gemeint ist. Gemäss BV-Kommentierung betrifft diese eine breite Palette von Handlungsformen von Bundesrat und Parlament, wie etwa Bundesgesetze, aber auch Einzelakte wie Bundesverordnungen, interne Regelungen wie Verwaltungsverordnungen oder Weisungen und sogar blosse Realakte. Mithin ein Ausschluss der Gesetzesüberprüfung, d.h. der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Nicht ausgeschlossen ist bei alledem die Beschwerde gegen Verfügungen untergeordneter Behörden, die sich auf besagte Akte stützen. Ebenfalls beschwerdefähig sind Anordnungen im Zuge der sogenannten konkreten Normenkontrolle. Hier können Betroffene im Rahmen der Anfechtung einer individuellen behördlichen Verfügung z.B. die Unzulässigkeit einer Verordnung des Bundesrats rügen. Selbst Rechtserlasse dürfen demnach vor Gericht infrage gestellt werden. Washington hätte es auch im Schweizer System nicht ganz leicht.
Bei näherer Auseinandersetzung mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit wird rasch ersichtlich, dass es sich um eine fein austarierte und teils über Jahrhunderte erkämpfte Ordnung handelt, mit der sich der Bürger gegen Entscheidungen der Obrigkeit zu Wehr setzen kann. Auch eine Klimaseniorin. Es geht um ein Grundrecht.
Es wäre ein Verlust, wenn Männer mit Kettensägen diese tragende Säule des Rechtsstaats kurzerhand fällen würden.
(Foto: Caique Araujo)