Die Corona-Pandemie stellt das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen auf die Probe. Zuletzt im Streit um die Öffnung der Beizenterrassen in Skigebieten. Der Teller Pommes frites unter freiem Himmel wurde zum Testfall für den Föderalismus. Erneut kam es zum Kompetenzgerangel zwischen dem Gesundheitsminister und den Kantonen. Wie die Schweizer Bundesverfassung mit diesen Konflikten umgeht, zeigt dieser Beitrag.
Gleich zu Beginn der Pandemie im März 2020 haperte es mit der föderalen Zusammenarbeit. Der Grenzkanton Tessin war dem Krisenherd in der Lombardei schutzlos ausgeliefert. Deshalb liess der Tessiner Regierungsrat kurzfristig sämtliche Baustellen und Industriebetriebe ausserhalb des Gesundheitsbereichs schliessen.
Einmal sind die Kantone zu streng…
Weil der Kantons-Lockdown viel weiter ging als die Eindämmungsstrategie des Bundesrats, war er bundesrechtswidrig. Der Bundesrat hatte nämlich von seinen Kompetenzen im Epidemiengesetz ersten Gebrauch gemacht und damit die Spielräume der Kantone beschnitten. Entsprechend war auch die Mitte März 2020 angeordnete Ausgangssperre für über 65-Jährige im Kanton Uri rechtswidrig. Während der Kanton Uri dem Druck aus Bern nachgab, hielt der Kanton Tessin an seinen Massnahmen fest. Nach wenigen Tagen deeskalierte der Bundesrat den Konflikt, indem er dem Kanton Tessin ein «Krisenfenster» für einschneidendere Massnahmen öffnete.
…dann wieder zu lax: Föderalismus-Krise auf der Alpinstufe
Die Ereignisse vom März 2020 muten rückblickend absurd an. Sind es nun ein Jahr später doch gerade die Kantone, die sich über zu weitgehende Beschränkungen des Bundes beklagen. Seit dem Wintereinbruch lief eine mediale Debatte über die Öffnung der Skigebiete. Der Bundesrat überliess den Entscheid den Kantonen. Gleichzeitig verfügte er aber kurz vor Weihachten die landesweite Schliessung der Restaurants. So kam es zu einer offenen Föderalismus-Krise um den Streitpunkt Skipisten-Restaurants. Unter anderem die Kantone Uri und Tessin, jene also, welche den Bund im Jahr zuvor noch mit strengeren Massnahmen herausforderten, liessen Skigebiete gewähren, die ihre Restaurant-Terrassen öffnen.
Es drängt sich die Frage auf: Wenn in der ganzen Schweiz Gärten und Terrassen von Beizen geschlossen bleiben müssen, wieso sollte dann für die Gastronomie am Pistenrand etwas anderes gelten? Die Kantone argumentieren, der Bund habe ihnen die Kompetenz über die Skigebiete überlassen. Darunter fielen auch die Verpflegungsangebote. Wenn die Kantone also schon selbst entscheiden, ob ihre Skigebiete öffnen, dann dürften sie auch die Modalitäten bestimmen. Der Bund hält den Kantonen indes nicht ohne Grund vor, dass die Öffnung von Restaurantterrassen gemäss Covid-19-Verordnung generell und überall unzulässig sei. Nach einer Aussprache mit Gesundheitsminister Alain Berset fast am Ende der Skisaison geben die Gesundheitsdirektionen schliesslich nach und ordnen die Schliessung der Terrassen an. «Aus staatspolitischen Gründen», wie den Medienmitteilungen zu entnehmen ist.
Prinzip der Einzelermächtigung
Diese staatspolitischen Gründe sind einen näheren Blick wert. Wer im Bundesstaat das Sagen hat, ist nicht immer leicht auszumachen. Im Grundsatz gilt das Prinzip der Einzelermächtigung (Art. 42 BV). Das heisst, dem Bund kommen nur Kompetenzen zu, die ihm durch die schweizerische Bundesverfassung ausdrücklich übertragen werden. Die Kantone haben im Umkehrschluss eine subsidiäre Generalkompetenz auf allen Gebieten, zu denen die Verfassung keine Auskunft gibt.
So gibt Artikel 118 BV dem Bund die Kompetenz, Vorschriften zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. Gestützt auf diese Bestimmung hat das Parlament 2012 das revidierte Epidemiengesetz erlassen. Das Gesetz dient seit Ausbruch der Pandemie als Grundlage für die Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19: Maskenpflicht, Abstandsregeln, Schul-, Beizen- und Ladenschliessungen. Es verleiht dem Bundesrat Kompetenzen, die er in normalen Zeiten nicht hat. Die Kantone müssen die Massnahmen mittragen und ihrerseits auf viele Kompetenzen verzichten, die ihnen in normalen Zeiten zukommen.
Eskalationsstufe rot: Bundesexekution
Was aber geschieht nun, wenn einzelne Kantone sich verweigern? Das Problem der Durchsetzung von Bundesrecht ist so alt wie der föderale Staat selbst. Die Rechtsdurchsetzung obliegt zwar dem Bund (vgl. Art. 173 Abs. 1 lit. e BV und Art. 186 Abs. 4 BV), dieser verfügt aber meist nicht über die notwendigen Organe. Ohne Kooperation der Kantone bleibt die Gesetzgebung des Bundes mithin toter Buchstabe. Der Bundesrat kann auf politischer Ebene Bundestreue einfordern und rhetorisch mit den Säbeln rasseln. Da das Polizeimonopol in den Händen der Kantone liegt, bleibt ihm letztlich aber nur die sogenannte Bundesexekution: ein Aufgebot der Armee.
Davon abgesehen, dass ein Militäreinsatz gegen einen Kanton eine staatspolitische Bankrotterklärung ist, wird er in den meisten Fällen auch kaum praktikabel sein. Man stelle sich vor, der Bund hätte Ende Februar Truppen aufgeboten, um die Gäste der Bergbeizen aufzufordern, ihre Pommes frites draussen im Freien zu essen.
Aus diesen Gründen ist es in der Geschichte der Eidgenossenschaft auch noch nie zu einer Bundesexekution gekommen. Ganz im Gegensatz zur Bundesintervention, bei der Truppen zur Unterstützung der Kantone für die Sicherheit aufgeboten werden. Immerhin musste der Bund eine Bundesexekution einmal androhen, nämlich 1884 gegen den Kanton Tessin, nachdem dieser im Rahmen der Nationalratswahlen abweichlerische Tendenzen zeigte. Angesichts des drohenden Einmarschs lenkte der Kanton indes ein, um eine Konfrontation zu verhindern.
Der Geist der Präambel
Im Rückblick werden wir den Skibeizen-Streit als Kuriosum wahrnehmen. Er ist indes durchaus denkwürdig. Der Konflikt führt vor Augen, dass die Lösung von Föderalismuskrisen nicht in obrigkeitlichem Zwang liegt. Vielmehr liegt der Schlüssel „im Willen der Kantone, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben“. So steht es gleich am Anfang der Bundesverfassung geschrieben, in der Präambel.
Dieser Beitrag wurde verfasst unter Mitarbeit von Gian Heimann, Student Rechtswissenschaften an der Universität Zürich. Danke, Gian!